Orpheus und Eurydike
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Inventar Nr.:
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KP B VI/II.26 |
Bezeichnung:
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Orpheus und Eurydike |
Künstler / Hersteller:
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Jacob Dobbermann (1682 - 1745)
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Datierung:
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1716-1745 / um 1710/11-1716 [?] |
Objektgruppe:
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Skulptur / Plastik, Relief |
Geogr. Bezug:
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Kassel |
Material / Technik:
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Elfenbein, gesägt, geschnitzt und geschabt, poliert |
Maße:
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11,9 x 8,1 x 1,2 cm (Objektmaß)
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Katalogtext:
Beschreibung
Das Relief zeigt einen Mann und eine Frau – Orpheus und Eurydike –, die im Begriff sind, sich in die Arme zu fallen. Der unbekleidete Orpheus bewegt sich von links auf die Bildmitte zu. Sein rechter Fuß ist hinter einem Felsvorsprung verborgen, das linke Knie ist auf einer steinernen Erhebung abgestützt. Er strebt Eurydike entgegen, um ihr auf den Felsvorsprung zu helfen und sie zu umarmen. Durch die hinter ihm wehende Draperie, die über seine linke Schulter und den linken Oberschenkel geführt wird, wird der Eindruck schneller, hastiger Bewegung erzeugt. Anstatt seinen Blick auf Eurydike zu richten, wendet Orpheus den Kopf, entsetzt über seine rechte Schulter hinter sich blickend. Beide Arme sind nach Eurydike ausgestreckt und kurz davor, sie zu umfassen. Eurydike steigt zu Orpheus auf den Felsvorsprung im Vordergrund hinauf. Ihr rechter Fuß steht bereits sicher auf dem Boden, das linke Bein aber ist noch von Flammen umgeben, die hinter ihr bis auf die Höhe ihres Kopfes emporlodern. Hinter ihrem Rücken und an ihrem linken Bein scheinen die Flammen nach ihr greifen zu wollen. Die Unbekleidete streckt ihre Arme nach Orpheus aus, dessen Oberkörper sie schon mit der linken Hand berührt. Auch sie blickt nicht Orpheus entgegen, sondern wendet den Kopf über die linke Schulter. Im Vordergrund liegt eine Violine, Orpheus’ Instrument, auf dem Boden, den Hintergrund bestimmen schroffe Felsen, Flammen und Rauch. Orpheus trägt einen Kranz aus Lorbeerblättern auf dem kurzen Haar, um sein Kinn kräuselt sich ein lockiger Vollbart. Eurydike ist mit einer hochgesteckten Flechtfrisur dargestellt.
Die Körper des Paares treten plastisch aus dem Relief hervor. Der rechte Arm und die rechte Hand vor Orpheus, an der der Ringfinger abgebrochen ist, ist sogar vollplastisch gearbeitet. Im Vordergrund drohen die Flammen, Eurydikes Bein zu umschließen, im Hintergrund sind Flammen und Felsen als Flachrelief gearbeitet, wodurch der Künstler der Szene Tiefenwirkung verlieh. Die Darstellung ist auf die beiden Protagonisten konzentriert, während der Hintergrund lediglich die Szene verortet.
Der Elfenbeinschnitzer ließ oben und an den Seiten einen sehr schmalen Rand stehen, sodass die Szene von einem schmalen Elfenbeinrahmen umgeben ist. Dadurch wird die Tiefenwirkung des Reliefs verstärkt, bei dem Dobbermann zwischen vollplastischen Elementen und zartem Flachrelief variierte. Auf dieselbe Weise bearbeitete er drei andere Elfenbeinreliefs in der Sammlung: das geringfügig größere Relief Susanna im Bade (KP B VI/II.23) und die noch etwas größeren, ebenfalls mythologischen Reliefs Pluto und Proserpina (KP B VI/II.42) und Herkules und Dejanira (KP B VI/II.43).
Literarische Vorlage
Die Darstellung des Orpheus, der seine verstorbene Gemahlin aus der Unterwelt zurückholen wollte, ist den Metamorphosen von Ovid entnommen (X, 1-85, hier 55-59). Orpheus, der mit seiner Musik wilde Tiere zähmen konnte, verliert seine Frau Eurydike durch einen Schlangenbiss. Erschüttert über ihren Tod, folgt er ihr in den Hades, um bei den Göttern der Unterwelt, Pluto und Proserpina, um ihre Rückkehr zu bitten. Weil der begnadete Sänger mit seinem Lied das Herz beider erweicht, gewährt ihm das Götterpaar, Eurydike an die Oberfläche zurückzuführen unter der Bedingung, sie erst anzusehen, sobald sie die Unterwelt verlassen haben. Kurz vor Erreichen der Erdoberfläche dreht sich Orpheus nach Eurydike um, weshalb sie – ihm noch die Arme entgegenstreckend und ein letztes Mal Abschied nehmend – zum zweiten Mal stirbt und Orpheus verzweifelt zurückbleibt.
Dobbermann gibt den Moment wieder, in dem Orpheus sich bereits nach Eurydike umgesehen hat und sie, kurz davor, den Flammen zu entsteigen, in die Unterwelt zurückkehren muss. Gezeigt ist der Moment, in dem sich das Paar beinahe umarmen kann, aufgrund des überstürzten Handeln Orpheus’ jedoch für immer getrennt wird. Die Dramatik und Spannung des Moments wird in den aufeinander zustrebenden Körpern und dem erschrockenen Gesichtsausdruck Orpheus’ sichtbar, der seinen Fehler erkennt.
Ikonographie
Orpheus wird durch das Instrument im Vordergrund, eine auf dem Boden liegende Viola da braccia oder Violine, charakterisiert. Durch ihn und die hinter ihr emporschlagenden Flammen ist auch Eurydike eindeutig zu identifizieren, die, ihrer Rettung so nah, dem Hades entsteigt. Flammen werden bei Ovid nicht erwähnt, steigern aber die Dramatik der Darstellung und erwecken eine Assoziation der mythologischen Unterwelt mit der christlichen Hölle. Die Darstellung ist insofern ungewöhnlich, als Darstellungen des von wilden Tieren umgebenen musizierenden Orpheus oder des Paares in der Unterwelt bzw. auf dem gemeinsamen Weg aus der Unterwelt deutlich häufiger in der Kunst der Renaissance und des Barock zu finden sind.
Zuschreibung
Aufgrund der Signatur „J.D. fz.“, die als Signatur Dobbermanns gilt, wird das Relief allgemein als Arbeit Jacob Dobbermanns angesehen. Die Variation zwischen plastischem Hochrelief und Flachrelief ist für seine mythologischen Darstellungen charakteristisch, aber auch bei anderen zeitgenössischen Elfenbeinkünstlern wie Ignaz Elhafen oder Antonio Leoni zu finden. Typisch für Dobbermanns Figurenstil sind die etwas ungelenk wirkenden Körper und die kleinen Hände mit langen Fingern. Während Dobbermanns „technische Virtuosität“ (Burk 2001, s. 128) Bewunderung findet, gelten die von ihm dargestellten Gesichter als ausdruckslos. Im Fall des Reliefs Orpheus und Eurydike sind beide Urteile nicht von der Hand zu weisen. Die künstlerische Bearbeitung des Materials ist bemerkenswert, Orpheus wirkt aber trotz des aufgerissenen Mundes und der weit aufgerissenen Augen nicht entsetzt oder zutiefst erschüttert und die Stirnfalte Eurydikes lässt ihr Gesicht älter wirken, verfehlt aber das Ziel, sie sorgenvoll erscheinen zu lassen.
Datierung und stilistische Einordnung
Da nur wenige Werke von Jacob Dobbermann datiert sind, ist eine ungefähre zeitliche Einordnung nur über stilistische Vergleiche mit seinen datierten Arbeiten möglich. Die Provenienz der Werke und die biografischen Stationen Dobbermanns bieten ebenfalls Anhaltspunkte. Da das Relief aus altem landgräflichem Besitz stammt und bereits Ende des 18. Jahrhunderts im Museum Fridericianum in Kassel ausgestellt war, könnte es nach Dobbermanns Ankunft in Kassel entstanden sein, was die Datierung auf 1716-1745 eingrenzt. Aufgrund der stilistischen Nähe zu drei anderen mythologischen Reliefs – Pluto und Proserpina (KP B VI/II.42), Herkules und Dejanira (KP B VI/II.43) und Neptun und Amphitrite (Sammlung Reiner Winkler im Liebieghaus in Frankfurt) –, die mutmaßlich in Dobbermanns Anfangszeit in Kassel um 1720 entstanden (vgl. Burk 2001, S. 128f.), ist auch Orpheus und Eurydike in diese Zeit zu datieren.
Bildliche Vorlage
Da Dobbermann sich bei den von ihm geschaffenen Elfenbein- und Bernsteinarbeiten häufig von Darstellungen anderer Künstler inspirieren ließ, die ihm wahrscheinlich in Form von Kupferstichen oder Radierungen vorlagen, ist auch im Fall dieses Reliefs anzunehmen, dass er sich auch bei der Darstellung von Orpheus und Eurydike an einer druckgraphischen Vorlage orientierte.
Interessanterweise ist eine sehr ähnliche Darstellung, eine Zeichnung, überliefert, die 1998 bei Christie’s in London versteigert wurde und einem Künstler aus dem Umkreis des Leidener Malers Willem van Mieris zugeschrieben wird. Im Vergleich mit dem Relief ist die Darstellung seitenverkehrt. Orpheus und die dem Hades entsteigende Eurydike halten sich ebenso umklammert wie auf dem Elfenbeinrelief. Im Gegensatz zur Darstellung Dobbermanns wird ihre Scham jedoch von Tüchern verdeckt. Während Dobbermann seine Szene in eine Felsenlandschaft setzte und hinter Eurydike Flammen emporschlagen und umherzüngeln ließ, findet die Umarmung des Liebespaares auf der Zeichnung auf einer Wiese statt. Im Hintergrund ist ein mit Pflanzen bewachsener Berg zu sehen, über dem Vögel fliegen. Statt Flammen, die aus dem Hades emporlodern, stellte der Zeichner eine Explosion und Qualm dar, der die Idylle zu verschlingen droht.
Da die Zeichnung im Vergleich zum Relief seitenverkehrt ist, ist anzunehmen, dass nicht sie, sondern eine seitengleiche Darstellung Dobbermann als Vorlage diente. Tatsächlich ist ein Kupferstich von dem italienischen Maler und Kupferstecher Agostino Carracci (1557-1602) erhalten, der Orpheus und Eurydike beinah genauso zeigt, wie Dobbermann sie wiedergibt. Wie im Elfenbeinrelief ist der Eingang zum Hades auf der druckgraphischen Vorlage eine hohe Felsformation, aus der Flammen emporschlagen. Der Kupferstich ist dadurch eindeutig als Dobbermanns Vorlage zu identifizieren. Lediglich die Kopfdrehung Eurydikes, die Darstellung des Instruments im Vordergrund und Details in der Behandlung der Flammen und des Felsengrunds unterscheiden sich. Orpheus erscheint auf dem Relief Dobbermanns weniger ausdrucksstark: Der entsetzt mit weit aufgerissenem Mund und angsterfüllten Augen zum Himmel blickende Orpheus des Kupferstichs wirkt im Relief eher überrascht. Auch Eurydike, die auf dem Kupferstich sich zu den Flammen umwendend in die Arme ihres Mannes eilt, hat im Relief an Dynamik verloren. Dennoch wirkt die Annäherung des Paares innig.
Orpheus und Eurydike gehört zu einer als „Lascivie“ bezeichneten Serie Agostino Carraccis. Da acht Abzüge des Stichs bekannt sind, wird die Darstellung als aus der Serie beliebtestes Thema angesehen.
Dobbermann, der eine eigene Kupferstichsammlung besaß, war möglicherweise selbst im Besitz eines Abzugs von Agostinos Werk. Während der Zeichner Carraccis Darstellung variierte, übersetzte Dobbermann sie fast wörtlich. Zwar verliert seine Darstellung gegenüber der Vorlage an Ausdruckskraft, die Bearbeitung des Materials, die Rundungen der Körper und die Plastizität der Szene sind Dobbermann aber meisterhaft gelungen.
Sammlungsgeschichte / Provenienz
Spätestens Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich das Relief im Besitz der Landgrafen von Hessen-Kassel nachweisen. Zusammen mit anderen Elfenbeinreliefs war es zunächst im Museum Fridericianum ausgestellt. Da Dobbermann seit 1716 als Bernstein- und Elfenbeinarbeiter am Hof Landgraf Carls von Hessen-Kassel angestellt war und bis zu seinem Tod 1745 in den Diensten der hessischen Landgrafen Friedrich und Wilhelm stand, ist es wahrscheinlich, dass das Relief schon früher in die landgräflichen Sammlungen gelangte. Möglicherweise war es eins der „Drei historische[n] stücke aus dem Ovidio, worfür gläser in schwartzem rahmen.“, die bereits 1747 im Kunsthaus hingen.
Vergleichswerke
Agostino Caracci, Orpheus und Eurydike, um 1594-97 / 1590-95, Kupferstich, 2. Zustand, 14 x 10,2 cm, New York, The Met, Inv.-Nr. 17.37.170, vgl: https://www.metmuseum.org/art/collection/search/341366 [23.11.2021].
(Vorlage)
Umkreis von Willem van Mieris, Orpheus und Eurydike, Pergament, schwarze und rote Kreide, 20,8 x 16,4 cm, versteigert am 17.12.1998 bei Christie`s in London, Lot. 289, vgl. https://rkd.nl/explore/images/33451 [23.11.21].
(Elisabeth Burk, 29.11.2021)
Literatur:
- Lenz, August: Führer durch den Unterstock der neuen Bildergalerie zu Kassel von A. Lenz, Königlichem Museums=Inspector, S. 21, Kat.Nr. 26.
- Scherer, Christian: Studien zur Elfenbeinplastik der Barockzeit. Straßburg 1897, S. 130, Anm. 1.
- Pelka, Otto: Elfenbeinbein. Berlin 1920, S. 277, Abbildung S. 279.
- Rasmussen, Jörg [Bearb.]: Barockplastik in Norddeutschland [Die Ausstellung wird anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Museums für Kunst und Gewerbe am 15. September 1977 eröffnet. Ausstellungsdauer: 16. September - 6. November 1977]. Mainz 1977, S. 510 f., Kat.Nr. 201.
- Nickel, Claudia: Der Bernstein- und Elfenbeinschnitzer Jacob Dobbermann (1682-1745). Hausarbeit zur Erlangung des Magistergrades [...] der Universität Göttingen. Göttingen 1985, S. 79, Kat.Nr. 21.
- Burk, Jens Ludwig: Marmorbad Kassel. Spätbarocker Pavillon in der Karlsaue mit bedeutenden Skulpturen und Reliefs von Pierre Etienne Monnot. Regensburg 2001.
- Weinberger, Cornelia [Bearb.]: Inventare und Akten des Kasseler Kunsthauses. Privater Probedruck. Kassel 2015, S. 30, Kat.Nr. 878-880.
- Inventar B VI. Inventar der Gegenstände von Bernstein, Elfenbein, Holz, Stein [...]. [Kassel] nach 1779, S. 30, Kat.Nr. 26.
- Inventar B VI Copia. Museum. Inventarium über Kunstsachen von Bernstein, Elfenbein, Agath, Holz, gebrannte Erde und andern mehr. [Kassel] nach 1779, S. 31, Kat.Nr. 26.
Siehe auch:
- KP B VI/II.23: Susanna im Bade
- KP B VI/II.42: Pluto und Proserpina
- KP B VI/II.43: Herkules und Dejanira
Letzte Aktualisierung: 27.06.2024